Alina kommt aus Odessa. Sie ist in Kiew geboren. Sie ist mit ihren Kindern seit Frühjahr letzten Jahres in Pullach, zuerst in einer Familie, aktuell in einer Wohngemeinschaft. Sie arbeitet seit fast einem Jahr und muss für ihre Kinder alles organisieren als alleinerziehende Mutter. Sie spricht über die Situation der Kinder in den Schulen in Ihrer Heimatstadt Odessa, beeindruckend, traurig, aber wahr.

Der Schuljahresbeginn in Bayern. Die Kinder kehren in die Schulen zurück, und wahrscheinlich wird ihre erste Unterrichtsstunde dem Thema gewidmet sein, wie sie den Sommer verbracht haben. In der Ukraine beginnt das Schuljahr auch immer im Herbst, am 1. September. Meine Tochter, wie alle ukrainischen Kinder, die in Pullach leben, besucht gleichzeitig zwei Schulen. Morgens geht sie zur deutschen Schule, und zu Hause nimmt sie am Fernunterricht bei einer ukrainischen Lehrerin teil und absolviert das Schulprogramm mit meiner Hilfe.
Aber in diesem Jahr sind die Schüler unserer Schule in Odessa (einer Stadt, in der wir vor dem Krieg gelebt haben) am 1. September nicht zur Schule gegangen. Im Sommer dieses Jahres hat der Feind Odessa brutal angegriffen und schwere Schäden im historischen Stadtzentrum angerichtet. Historische Gebäude, die unter dem Schutz der UNESCO stehen, wurden ebenfalls beschädigt. Leider hat auch die Schule meiner Tochter gelitten, eine Schule, die älter als 100 Jahre ist. Sie ist in einem gefährlichen Zustand, aber Lehrer und die örtliche Verwaltung bemühen sich immer noch, den Unterricht wieder aufzunehmen. Jedoch wurde den Lehrern am 1. September untersagt, den Unterricht zu beginnen, da der Luftschutzkeller noch nicht in akzeptablem Zustand ist. Ein Ingenieur, der diese Einrichtung besucht hat, sagte: „Dieser Ort wird niemanden vor direkten Raketenangriffen retten.“ Außerdem muss die Lehrerin, wenn die Sirene heult, 18 Kinder innerhalb von Minuten in einen Bunker führen, wobei sie nicht nur ihr eigenes Leben riskiert…

Wenn der Unterricht endlich wieder aufgenommen wird, wird die erste Unterrichtsstunde nicht „wie habe ich den Sommer verbracht?“ sein… Die erste Stunde wird darin bestehen, Fähigkeiten im Umgang mit Luftangriffen zu üben und sich zum Luftschutzkeller zu begeben. Jedes Kind wird eine Notfalltasche mit notwendigen Gegenständen zur Schule mitbringen… Dieser Krieg betrifft uns alle und hinterlässt eine schreckliche Spur bei den Kindern… Das Niveau von Angst und Aggression bei den Kindern ist extrem hoch, sie beginnen zu stottern und beginnen wieder ins Bett zu nässen, sie entwickeln Neurosen. All dies ist die Folge von Raketenangriffen… Die Lehrerin erzählte mir, dass der Junge aus der benachbarten Wohnung so sehr weinte, dass man ihn durch die Wände eines Mehrfamilienhauses hören konnte. Er konnte sich lange nicht beruhigen und rief verzweifelt „Mama, Mama“, das war in der Nacht schrecklicher Angriffe… Viele Eltern und Kinder bleiben nachts zu Hause, denn nicht immer gibt es die Möglichkeit, mitten in der Nacht mit schlafenden Kindern in den Bunker zu rennen. Die Menschen verstecken sich im Flur und im Badezimmer, schlafen nicht und müssen morgens zur Arbeit oder zur Schule gehen… Jeder Mensch in der Ukraine braucht psychologische Hilfe, und wie sehr die Kinder sie brauchen…

Aber was ist mit den Kindern, die in Deutschland und anderen Orten im Ausland sind? Gott sei Dank hören sie nicht, wie die Raketen fallen, aber sie sind weit weg von ihrer Heimat, von ihren Verwandten, und sie sehen alles in den Augen derer, die bei ihnen sind. Mein kleiner Sohn fragt mich immer, wann der Krieg enden wird. Und meine Tochter wünscht sich einfach, wo und wann immer sie kann, dass dieser Wunsch nach dem Ende des Krieges in Erfüllung geht.

Uns wird berichtet, dass die Russen derzeit Raketen ansammeln. Und diese Raketen werden erneut auf die Zerstörung der Energieinfrastruktur gerichtet sein. In Odessa wird die Stromversorgung täglich 10 Stunden lang unterbrochen sein, und das wird bereits jetzt angekündigt. Bald wird der kalte Herbst und der Winter kommen, die schlimmer sein werden als im letzten Jahr… Der Bildungsbetrieb wird erneut gestört werden, deshalb bereiten sich die Lehrer bereits darauf vor, im ersten Semester das zu unterrichten, was normalerweise in zwei Semestern vermittelt wird. Die Kinder müssen lernen, trotz allem…

In letzter Zeit höre ich viele Appelle, dass alle vom Krieg müde sind und dass wir uns einigen müssen. Wir müssen uns einigen, um den Frieden wiederherzustellen, das Blutvergießen zu stoppen und die Weltwirtschaft zu stabilisieren. Aber was bedeutet das wirklich? Bedeutet das, dass wir das Territorium eines unabhängigen Staates aufzugeben, für den Tausende von Soldaten gestorben sind? Bedeutet das, Städte und Dörfer aufzugeben, in denen Eltern und Kinder gestorben sind?

Aber wo ist die Garantie, dass der Feind nie wieder zurückkehren wird, dass er nicht nur eine Pause einlegt, mehr Raketen ansammelt und erneut mordet? Sollen wir wirklich den Terroristen das, was sie mit Gewalt genommen haben, einfach überlassen, um sie zu besänftigen? Wo ist der Punkt, der ein Schlussstrich sein wird, und nicht nur ein Komma? Und warum starben dieser junge Mann und dieses Mädchen, die ihr Zuhause verteidigten, und warum schrie dieser kleine Junge so verzweifelt hinter der Wand?

Vielen Dank, dass aufgenommene Ukrainerinnen ihre Gedanken, ihre Erfahrungen zum wöchentlichen Innehalten, immer sonntags um 17 Uhr am Baryschiwka Platz in Pullach beitragen.

Otto Horak